Ist eine Reform des Sicherheitssektors in der Sahelzone noch sinnvoll?

Mediatoren aus Burkina Faso und Niger sowie der Präsident der malischen Menschenrechtskommission berichten über ihre Erfahrungen und Herausforderungen bei der Konfliktlösung und dem Schutz der Menschenrechte in der Sahelzone, Niger. SADKOUYA Fotografie für DCAF
DCAF – Geneva Centre for Security Sector Governance
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DCAF - Geneva Centre for Security Sector Governance

Die Gouvernanz und die Reform des Sicherheitssektors (SSG/R) behandeln oft sensible und politisch brisante Themen, die für die Autorität jeder Regierung oder Gesellschaft zentral sind. Diese Prozesse bringen also automatisch Risiken mit sich – vor allem in fragilen, instabilen Kontexten, in denen viele Faktoren Rückschritte in punkto Demokratie bewirken, Mechanismen der Sicherheitsgouvernanz schwächen und sämtliche Normen der Rechenschaftspflicht der Regierung aushebeln können.


Die aufeinanderfolgenden Staatsstreiche in Mali, Burkina Faso und Niger sind deutliche Zeichen für das Versagen grundlegender Gouvernanz-Standards des Sicherheitssektors und stellen die Wirksamkeit von Reformen in diesen Staaten in Frage. Gleichzeitig entsteht Unsicherheit im Hinblick auf die nächsten Schritte: Ist eine SSR unter einer Militärführung nach einem Putsch möglich? Wie können Gouvernanz-fördernde Organisationen wie DCAF in Kontexten agieren, in denen militärische Akteure eine Vormachtstellung gegenüber zivilgesellschaftlichen Akteuren einnehmen, demokratische Normen grundlegend in Frage gestellt werden und der zivilgesellschaftliche Raum schrumpft?


DCAF-Teams haben schnell festgestellt, dass SSR durch die Militärputsche im Sahel schwieriger, aber auch notwendiger werden. Die Vorkommnisse bringen erhebliche programmatische Risiken mit sich und haben wichtige Fragen aufgeworfen. Ist es unter diesen Bedingungen realistisch, dass wir Reformen vorantreiben und zu einer besseren Gouvernanz beitragen können? Welche Risiken kommen auf uns zu, wenn wir eine mit demokratischer Gouvernanz, Transparenz und Rechenschaftsnormen verbundene Reformagenda verfechten? Wie wahrscheinlich ist es, dass unsere Bemühungen zur Beeinflussung von Normen, Standards, Verhaltensweisen und Standpunkten der Sicherheitseinrichtungen in einer sich rapide verschlechternden Menschenrechtslage scheitern werden?


Darüber hinaus besteht das erhöhte Risiko, von nicht-demokratischen Militärregimes instrumentalisiert zu werden. Dadurch könnten irrtümlich Akteure oder politische Prozesse legitimiert werden, die einen friedlichen Übergang behindern oder unerwünschte Resultate wie etwa Gesetze zur Einschränkung ziviler Kontrollmöglichkeiten festschreiben. Zudem setzen sich unsere Mitarbeitenden und unsere Partner möglicherweise einem grossen persönlichen Risiko aus, wenn sie in einem schrumpfenden zivilgesellschaftlichen Raum agieren, in dem jede Handlung als Legitimierung der neuen Machthaber gesehen werden kann.


Dennoch gibt es gute Gründe für das Fortführen der Einsätze in den Ländern, in denen die Landesregierungen versuchen, die sich rapide verschlechternde Sicherheitssituation anzugehen. Noch ist unklar, ob der SSR-Einsatz den Standard- und Normenverfall verlangsamen und so wiederum dazu beitragen würde, Zeit bis zu einem Übergangsprozess mit der Möglichkeit zur Wiedereinführung von SSG-Grundsätzen zu gewinnen. Wir bemühen uns um den Miteinbezug unserer jeweiligen nationalen Partner in unsere laufenden Bemühungen mit dem Ziel, gute Regierungsführung und SSR im Fokus der Übergangsagenda zu halten, um damit die Reformforderungen der Zivilgesellschaft zu unterstützen. Dies könnte auch die Kapazität von Menschenrechtsorganisationen wie etwa nationaler Menschenrechtskommissionen stärken. Ausserdem hat die SSR in solchen Kontexten viel Potenzial als Risikomanagement- und Risikominderungs-Instrument und trägt so dazu bei, eine weitere Gewalteskalation zu verhindern.


Demgegenüber würde ein Rückzug die internationale Gemeinschaft erheblich dabei behindern, rechtzeitig und gezielt Hilfe zu leisten, falls oder sobald sich die Sicherheitssituation normalisiert. Ein Rückzug kann eine Leere hinterlassen, in der nationale Akteure, die die demokratische Gouvernanz unterstützen, isoliert, marginalisiert und sukzessive entkräftet werden. Das würde die Situation verschlimmern.


Diese Überlegungen flossen in konkrete, jeweils einzigartige Strategien für Mali, Burkina Faso und Niger ein und haben unsere Fähigkeit zur adaptiven Programmplanung auf den Prüfstand gestellt. In Mali zum Beispiel wurden nach dem Putsch im August 2020 sämtliche Programme pausiert. Nun hat DCAF seine Unterstützung für die National Human Rights Commission (CNDH) wieder aufgenommen und das Symposium national 2023 vorbereitet, das neben dem Espace d’interpellation démocratique (EID) eines der wenigen verbliebenen, offenen Diskussionsforen für Themen rund um Menschenrechte und Sicherheit ist. Nach einer Risikoabwägung haben wir beschlossen, unsere Arbeit mit der Polizei und der Gendarmerie wieder aufzunehmen, um sicherzustellen, dass die bisherigen Erfolge (wie etwa eine Frauenquote von 30 Prozent bei der Polizei) während des Übergangs bestehen bleiben und der Fortschritt in Richtung Vielfalt und Inklusion nicht behindert wird. Wir haben erlebt, wie der Einbezug der Genderperspektive zu einem besseren, differenzierteren und effektiveren Polizeidienst geführt hat, der eher in der Lage ist, unterschiedliche Sichtweisen und Auffassungen von Sicherheit zu berücksichtigen.


Trotz des höchst autoritären Charakters der militärischen Übergangsregierung in Burkina Faso konnten wir unser regionales Engagement für Transparenz und die Kontrolle der Verteidigungsausgaben weiterführen. In Ouagadougou haben wir eine Konferenz mit Vertreter:innen von Verteidigungs- und Sicherheitsdiensten, Parlamenten, Behörden der Verwaltungs- und Rechtskontrolle, Regulierungsbehörden sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen (ZGOs) aus Burkina Faso, Mali, Mauretanien und Niger veranstaltet. Während der gesamten Konferenz erlebten wir, wie nationale Vertreter:innen Fragen zur Finanzaufsicht aufgriffen, dabei sogar bei so sensiblen Themen wie Korruption Raum für Dialog liessen und insgesamt einen fachlichen Blickwinkel beibehielten. Trotz des wachsenden Drucks auf Akteure der Zivilgesellschaft haben diese Gespräche zur Einführung inklusiver Rahmenwerke für den Dialog geführt und damit die wesentliche Rolle gestärkt, die Whistleblower bei Korruptionsthemen spielen.


Der Staatsstreich in Niger vom Juli 2023 hat viele Annahmen, die dem weitreichenden SSR-Programm von DCAF zugrunde liegen, in Frage gestellt. Die Entscheidung, ob der Einsatz fortgeführt werden soll, und wenn ja, wie, beruhte auf den programmatischen Risiken und den Positionen von Zivilgesellschaft, Geldgeber:innen und regionalen Akteur:innen. Genau wie in Mali und Burkina Faso wollen wir verhindern, dass zivile Akteuren und die Zivilgesellschaft marginalisiert oder vom politischen Diskurs ausgeschlossen werden. Im Juni, einen Monat vor dem Putsch, hatten wir eine umfassende Beurteilung unserer Unterstützungsstrategie für die Zivilgesellschaft in Niger abgeschlossen. Der Umsturz der verfassungsmässigen Ordnung und die Einschränkung des zivilen Raums zwangen uns jedoch zu einer gründlichen Neubewertung. Heute konzentrieren wir uns auf das Erfassen der Sicherheitsbedürfnisse der Bevölkerung und regen ZGOs dazu an, diese Erkenntnisse für die Verfechtung eines stärker auf Menschen konzentrierten Sicherheitsansatzes zu verwenden.


Schlussfolgerungen
Eine Reform des Sicherheitssektors findet selten in einem «optimalen Setting» statt. Die derzeitigen Erfahrungen in Mali, Burkina Faso und Niger zeigen, dass es sogar bei nicht-verfassungsmässigen Regierungswechseln Möglichkeiten gibt, die demokratische Gouvernanz zu beeinflussen. Ausnahmslos bedürfen die oftmals verborgenen, indirekten oder zugrunde liegenden Risiken, die die Sicherheitsgouvernanz mit sich bringen kann, einer gründlichen Risikoabschätzung und solider Risikomanagementsysteme, um potenzielle und oftmals unbeabsichtigte Schäden zu verringern. In den vergangenen Monaten hat DCAF seine Bemühungen auf die Verfeinerung und Anpassung seiner Kapazitäten zur kontinuierlichen Analyse von Interessengruppen (ihre Macht, Motivation und ihre Anreize), politischer Prozesse (zum Beispiel Machtinteressen) sowie Konfliktdynamiken konzentriert und viel daraus gelernt.


Dank der intensiven Kommunikation und des Austauschs über neue Risiken mit Geldgeber:innen und anderen strategischen Partner:innen konnte DCAF sein Programm markant anpassen. Dabei kam es in einigen Fällen zur Verlagerung von der Initiierung einer Reform hin zur Schaffung neuer Anforderungen und Raum für Reformen, die umgesetzt werden können, wenn sich die Situation ändert. Genau diese fortlaufende Zusammenarbeit mit den Akteuren, etwa mittels Kapazitätsaufbau, Dialog, Sensibilisierung sowie direkter Unterstützung, stellt sicher, dass Reformen voranschreiten können und werden, sobald sich der Kontext normalisiert und der Übergangsprozess von vor dem Putsch wieder aufgenommen wird.

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