Neue Formen der geschlechtsspezifischen Gewalt im digitalen Raum

Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle Counselling Line for Women and Girls, CLWG in Albanien. IAMANEH Schweiz
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Es ist an sich nichts Neues: Die Geschichte zeigt uns, dass Bemühungen, die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu überwinden und die Gewalt an Frauen zu beenden, in der Regel auf individuellen und kollektiven, formellen und informellen Widerstand stossen. Widerstand oder «Backlash» gegen fortschrittlichen feministischen sozialen Wandel ist ein wiederkehrendes Merkmal einer patriarchalischen Ordnung. Sobald Muster der Ungleichheit und Ungerechtigkeit in dieser Ordnung in Frage gestellt werden, leisten Einzelne und Gruppe, besonders die, die von dieser Ordnung profitieren, Widerstand. Auf Grund der Digitalisierung und der heutigen Kommunikationsmittel wie den sozialen Netzwerken ist es umso leichter, diesen Widerstand und die Misogynie zum Ausdruck zu bringen.

In Tirana, Albanien beging Anfang März eine Frau Suizid, nachdem ihr Ex-Freund, ein TikTok-Influencer, sie erpresste und freizügige Fotos von ihr auf den sozialen Medien veröffentlichte. Der Mann, der die Fotos veröffentlichte, wurde verhaftet und vom Gericht in Tirana wegen «Anstiftung zum Mord» angeklagt.

Es ist bereits der zweite Suizid einer Frau in diesem noch eher jungen Jahr, der auf die Veröffentlichung intimer privater Fotos in den sozialen Medien zurückzuführen ist. Anita Lushi, Koordinatorin des Albanian Women’s Empowerment Network (AWEN), meinte in einem Interview gegenüber Euronews Next «Der digitale bildbasierte Missbrauch hat einen Höhepunkt erreicht, an dem wir es nicht mehr aushalten können»1 Lushi sagt im selben Interview ausserdem, diese Art des Missbrauchs sei eine wachsende Form der geschlechtsspezifischen Gewalt, die von allen Regierungsebenen angegangen werden müsse.

Seit 2016 dient die Beratungsstelle für Frauen und Mädchen (Counselling Line for Women and Girls, CLWG) als einzige nationale Helpline für Opfer von geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt in Albanien. Das Zentrum wurde 1996 mit dem Ziel gegründet, die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern, die Menschenrechte von Frauen zu bekräftigen und zu schützen, Frauen, die häusliche und geschlechtsspezifische Gewalt erfahren haben, und ihre Familien zu unterstützen und sich für die Bildung und wirtschaftliche Stärkung von Frauen und ihren Kindern einzusetzen. 2022 nahm die Nationale Helpline 3620 Anrufe entgegen, mehr als 1000 Frauen und Mädchen wurden durch die persönlichen und Online- Beratungsgespräche der CLWG für Überlebende von Gewalt unterstützt. Die Regierung finanziert etwa 25 % der Kosten der Beratungsstelle. IAMANEH ist eine der Geber:innen, die mit Beiträgen die Finanzierungslücke dieses Dienstes schliessen konnte. In der aktuellen Projektphase, die sich für mehr Sicherheit für Frauen im digitalen Raum einsetzt2, ist es besonders wichtig, die Nachhaltigkeit des Dienstleisters zu stärken.

Verstehen zu wollen, was Gewalt ist, oder wie sie ausgeübt wird, bedeutet immer, sie in ihrem kulturellen und historischen Kontext einzubetten und anzuerkennen, dass sie fliessend ist und sich in ihren Formen und über die Jahre verändern kann. Die neuen Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt in digitalen Räumen zeigen die Notwendigkeit, Gewalt auf digitalen Plattformen als ein vielschichtiges, fliessendes, sich überschneidendes und miteinander verbundenes Phänomen zu betrachten. Es braucht nicht nur Zivilcourage, sondern auch mehr Forschung, die die Komplexität von Gewalt in sozialen Medien erkennt und angeht. Es ist einer von vielen Schritten, die zum Aufbau von Friedenskulturen in und ausserhalb der digitalen Welt erforderlich sind.

[1] A matter of national security’: Albanian group wants government to ban cybercrimes against women

[2] Sicherheit für Frauen und Mädchen im digitalen Raum

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